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Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm

von Ulrike Oppelt

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[1.] Uo/Fragment 073 01 - Diskussion
Zuletzt bearbeitet: 2013-09-17 22:30:46 Graf Isolan
BauernOpfer, Fragment, Gesichtet, SMWFragment, Schlüpmann 1990, Schutzlevel sysop, Uo

Typus
BauernOpfer
Bearbeiter
Graf Isolan
Gesichtet
Yes
Untersuchte Arbeit:
Seite: 73, Zeilen: 1-20, 24-36, 103-107
Quelle: Schlüpmann 1990
Seite(n): 200, 201, 203, 204, Zeilen: 200:29-39.48-49 - 201:1-8.19-22; 203:10-15.21-23.32-39; 204:1-6.22-28
[Die Reformer forderten daher eine] Sitzordnung mit Geschlechtertrennung im Kino. Pastor Conradt vertrat sogar die Ansicht, dass die kirchliche und staatliche Institution Ehe mit der ihr vorbehaltenen Intimität durch die Stimulantien sexueller Lust in der Öffentlichkeit des dunklen Kinoraumes verdrängt werde. Das Kino erschütterte die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung. „Der Mensch des Kinematographen schert sich nicht viel um Familie, Staat oder gar Kirche.“73

Die positivistische Aufzählung von Elementen der Unzucht im Kino, vom Küssen der Erwachsenen bis zur kindlichen Nascherei, war jedoch längst nicht so gefährlich wie die unkontrollierte körperliche und verbale Kommunikation der Geschlechter, die gleichermaßen Aufklärung und Bedürfnisbefriedigung einschloss.74 Der Kinematograph als Volkserzieher? Unter diesem denunziatorischen Titel fasste der Hagener Gymnasialprofessor Adolf Sellmann 1912 seine Argumente gegen das Kino zusammen.75 Er verkörperte das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich für das ausgewählte maßgebende Publikum des Kinos hielt. Die Leidenschaften, die das Kino bei Millionen Menschen erregte und befriedigte, sah er als Krankheit, als „Kinoseuche“.76 Der Tübinger Professor für Ästhetik Konrad Lange schrieb 1912: „Ich zweifle nicht daran, dass wir durch den Kinematographen um eine neues Mittel zur Förderung der Kurzsichtigkeit und Nervosität reicher geworden sind.“77 1918 hat er diese Warnung zeitgemäßer formuliert:

„Die ungeheuren Ansprüche, die er [der Krieg] an die Sinne und Nerven der Menschen stellt, führen uns die Gefahr vor Augen, die darin liegen würde, wenn wir eine kurzsichtige und neurasthenische Jugend großzögen.“78

Die Trübung des Realitätssinnes und die Phantasieüberreizung sahen viele Reformer als eine Gefahr, die die Begriffe Wirklichkeit und Sittlichkeit, Tatsächliches und Erlaubtes sowie Gut und Böse durcheinander brachte. Das Bürgertum fürchtete im Kino Grenzüberschreitungen in den Bereichen Sexualität und männliche Identität. Klassenfragen standen nicht im Vordergrund.

Um 1900 gab es eine ungeheuren Bedarf an „Bildung“, der mit den Formen traditioneller Kultur nicht zu befriedigen war. Das Kino bot allerdings die Möglichkeit an einer gesellschaftsübergreifenden Subjektivität teilzuhaben. Realistische Staatsvertreter sahen die ausgiebigen Kapitalressourcen, die dem Staat nutzbar zu machen wären. Man wollte das Filmkapital zwar unterstützen, auch im Hinblick auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen, jedoch gleichzeitig seine emanzipatorische Wirkung unterbinden. Im Vordergrund der Überlegungen stand eine staatliche Zensur, wie sie der Jurist Albert Hellwig in zahlreichen Veröffentli[chungen darlegte.79]


73 Ebd., S. 28.

74 Vgl. Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks, 1990, S. 201.

75 Vgl. Diederichs: Filmkritik, 1986, S. 96f.

76 Adolf Sellmann: Der Kinematograph als Volkserzieher? Langensalza 1912, S. 8.

77 Konrad Lange: Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt, in: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel, 100. Flugschrift zur Ausdruckskultur des Dürerbundes, 1912.

78 K. Lange: Nationale Kinoreform, M. Gladbach 1918, S. 18, zit. n. Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks, 1990, S. 203.

79 U. a. Albert Hellwig: Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle a. d. S. 1911.

[Seite 200]

Zu den - nur gelegendich eingelösten - Forderungen der Reformer gehörte daher die nach einer Sitzordnung im Kino, die die Geschlechter trennt.116 Es läßt sich nicht anders deuten: im Auge des erregten Pastor Conradt usurpierte das Kino die Stelle der kirchlichen und staatlichen Institution Ehe, der allein Vorbehalten sein sollte, die Geschlechter zusammenzufügen; es setzte an die Stelle der Sexualität im Dienst eines ’Höheren’ die Stimulantien sexueller Lust, an die Stelle der Intimität des ehelichen Schlafzimmers, die Öffentlichkeit des dunklen Kinoraums. Derart griff das Kino die gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundfesten an: “Der Mensch des Kinematographen schert sich nicht viel um Familie, Staat oder gar Kirche.”117

[...] Die positivistische Aufzählung von Elementen der Unzucht im Kino vom kindlichen Naschen bis zum Küssen der Erwachsenen

[Seite 201]

heißt nicht, daß die Reformer das Kino mit einem Massenbordell verwechselten, die geschlossenen Herrenabende z.B. interessierten sie nicht. Viel gefährlicher als einfache Unzucht war die unkontrollierte, gestisch-körperliche und verbale Kommunikation zwischen den Geschlechtern, die Aufklärung und Bedürfnisbefriedigung in einem darstellte.

Der Kinematograph als Volkserzieher? — unter diesem denunziatorisch gemeinten Titel faßte 1912 der Hagener Gymnasialprofessor Adolf Sellmann seine Argumente gegen das Kino zusammen.119 [...]

Sellmann verkörpert das Selbstbewußtsein einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich nur noch behauptet, indem sie sich borniert und zur allein seligmachenden stilisiert. Er und die Ausgewählten seinesgleichen, nicht die ’Millionen’ bilden das maßgebende Publikum im Kino:

[Seite 203]

1912 schrieb der Tübinger Professor für Ästhetik, Konrad Lange:

Ich zweifle nicht daran, daß wir durch den Kinematographen um ein neues Mittel zur Förderung der Kurzsichtigkeit und Nervosität reicher geworden sind.123

1918 gibt er dieser Warnung vor der Kinogefahr eine zeitgemäße Wendung:

Die ungeheuren Ansprüche, die er [der Krieg] an die Sinne und Nerven der Menschen stellt, führen uns die Gefahr vor Augen, die darin liegen würde, wenn wir eine kurzsichtige und neurasthenische Jugend großzögen.124

Gemäß solcher Vorstellung vom gesunden Körper, der den Anforderungen des Krieges gewachsen sein muß, aber nicht für die sexuellen Wünsche anfällig sein darf, sieht Sellmann die Leidenschaften, die das Kino erregt und befriedigt, als Krankheit an, er spricht von einer “Kinoseuche”.125 [...]

[...]

Die ’Trübung des Realitätssinnes' heben viele Reformer als Gefahr hervor, die ’Phantasieüberreizung’, die “Wirklichkeit mit Sittlichkeit, Tatsächliches mit Erlaubtem,[...] mühsam gefestigte Grundbegriffe von Gut und Böse”, wie schon Pastor Conradt schrieb, durcheinander bringen läßt.127

Aus allem diesem geht hervor, daß das Bürgertum im Kino Grenzüberschreitungen fürchtete, die den Bereich der Sexualität und die männliche Identität betrafen, die Klassenfrage taucht erst mit der Erörterung der Filme auf und auch dann steht sie nicht im Vordergrund.

[Seite 204]

Es gab um 1900 einen ungeheuren Bedarf an ’Bildung’, den die Bildungsbewegung mit gefördert haben mochte, der aber mit Formen traditioneller Kultur überhaupt nicht zu befriedigen war. Im Kino verbarg sich die Möglichkeit, gesamtgesellschaftliche Subjektivität über die Aneignung des Produzierten, nicht der Produktivkräfte herzustellen. [...]

Während die Volkserzieher nur sahen, wie die Filmwirtschaft ihnen die Massen, die sie zu besitzen glaubten, entzogen, und vom Staat erwarteten, daß er ihnen ein Kino einrichte, das ihnen im alten Sinne ihren Einfluß auszuüben erlauben sollte, sahen realistische Staatsvertreter natürlich die enormen Kapitalressourcen, deren Entfaltung nicht zu behindern, sondern dem Staat nutzbar zu machen wären. Ihnen ging es darum, wie man das Filmkapital unterstützen könne und gleichzeitig seine emanzipatorische Wirkung unterbinden. Staatliche Überwachung, vornehmlich in Form der Zensur, stand im Vordergrund von Überlegungen, wie der Jurist Hellwig sie in zahlreichen Veröffentlichungen anstellte.


116 Vgl. z.B. die Untersuchung der Bremer Lehrerinnen, “Die Bremer Lehrerinnen und die Kinogefahr”, in: Die Lehrerin, 1913. Dort wurde festgestellt, daß nur zwei aller Kinos in Bremen und Umgebung sich um eine Trennung der Geschlechter bemühten.

117 W. Conradt, Kirche und Kinematograph, a.a.O., S. 28.

119 Zu Sellmanns kinoreformerischem Wirken in Westfalen vgl. Helmut H. Diederichs, Anfänge deutscher Filmkritik, München 1986, S. 96f.

123 Konrad Lange, “Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt”, in: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel, 100. Flugschrift zur Ausdruckskultur des Dürerbundes, 1912, S. 13.

124 Konrad Lange, Nationale Kinoreform, M. Gladbach 1918, S. 18.

125 A. Sellmann, Der Kinematograph als Volkserzieher?, a.a.O., S. 8.

127 W. Conradt, Kirche und Kinematograph, a.a.O., S. 39.

Anmerkungen

Art und Umfang der Übernahmen bleiben ungekennzeichnet. Gibt eigentlich nur Schlüpmann wieder und verändert gegenüber dem Original in der Regel nur den Satzbau. (Zitat wurde nicht mitgezählt.)

Sichter
(Graf Isolan) Schumann



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